Welche Ernährung passt zu mir?
Low-Carb, Very-Low-Carb oder gar ketogen? Ist eine kohlenhydratarme Ernährung für alle Menschen mit Typ-1-Diabetes geeignet? Lassen sich damit Gewicht und HbA1c senken ‒ langfristig und ohne Verlust von Lebensqualität? Oder muss das vielleicht gar nicht sein …
Die Erkenntnis ist nicht neu: Wer abnehmen und danach sein Gewicht langfristig halten möchte, kommt um eine Ernährungsumstellung nicht herum. Zusätzlich sinnvoll ist es, mehr Bewegung in den Alltag ein- und Muskulatur im Körper aufzubauen. Proteinhaltige Lebensmittel machen länger satt und tatsächlich gibt es Hinweise, dass eine kohlenhydratarme Ernährung, bei der der Körper weniger als 45 Prozent der Gesamtenergie aus Kohlenhydraten gewinnt, hinsichtlich der Gewichtsabnahme und Verbesserung kardiovaskulärer Risikofaktoren gleich effektiv ist, wie fettreduzierte Diäten.1
In Studien half eine kohlenhydratarme Diät Menschen mit Übergewicht und Prädiabetes dabei, ihre Blutzuckerwerte zu senken und Gewicht zu reduzieren.2 Teilgenommen hatten Menschen mit Typ-2-Diabetes für einen Zeitraum von sechs Monaten. Ging die Studiendauer aber über diese Zeitspanne hinaus, ließen sich die Effekte nicht aufrechterhalten. Prof. Diana Rubin, Leiterin des Zentrums für Ernährungsmedizin am Vivantes Klinikum Spandau und Humboldt-Klinikum Berlin vermutet, dass es den Probanden schlicht zu schwer falle, die strengen Diätvorgaben auf Dauer einzuhalten.3 Eine strenge Low-Carb-Diät ist aber nicht nur schwer durchzuhalten, sondern auch aus anderen Gründen problematisch: Weil es unter einer Diabetesmedikation rasch zu einer Hypoglykämie kommen könne, sollte die Ernährungsumstellung immer ärztlich begleitet werden. Zudem besteht einer Mitteilung der DDG zufolge die Gefahr, dass die Patientinnen und Patienten durch die einseitig restriktive Diät zu viel Fett aufnehmen. Für Schwangere mit Diabetes und/oder Essstörungen ebenso wie für Menschen mit Niereninsuffizienz gebe es keine ausreichende Datenlage zum Nutzen dieser Ernährungsform.3
Wie geht nun Low-Carb bei Typ-1-Diabetes?
Grundsätzlich, sagt Dr. Astrid Tombek, lasse sich auch ein Typ-1-Diabetes mit weniger als 50 Prozent Kohlenhydraten täglich managen, eine Very-Low-Carb-Diät – also eine sehr kohlenhydratarme Ernährung – halte sie aber für schwierig. „Wer das wirklich machen möchte, muss sich entweder sehr gut auskennen oder – besser noch – sich durch Experten begleiten lassen. Problematisch kann vor allem der verzögerte Blutzuckeranstieg werden.“ Normalerweise sei das Verhältnis von Basal- und Bolusinsulin ja ungefähr eins zu eins. Würden langfristig mehr Proteine und weniger Kohlenhydrate aufgenommen als sonst, verschiebe sich der Bedarf hin zu weniger Bolus- und mehr Basalinsulin. „Dies muss angepasst werden“, so Dr. Tombek. Werde eine große Menge proteinhaltiger Lebensmittel hingegen nur hin und wieder verzehrt, dann könne es natürlich passieren, dass der Blutzucker über Nacht ansteigt und man morgens korrigieren muss. „Es sei denn, man hat mithilfe einer Insulinpumpe einen verzögerten Bolus einstellen können. Oder –was wirklich prima funktioniert in solchen Fällen – man hat ein AID-System.“ Eine streng ketogene Ernährung ist der Ernährungswissenschaftlerin zufolge tatsächlich nur für Menschen mit zum Beispiel therapieresistenter Epilepsie und unter engmaschiger medizinischer Begleitung sinnvoll.
Essen ist eine sehr individuelle Sache
Wichtiger als pauschale Restriktionen ist aus Sicht vieler Ernährungswissenschaftler, dass eine Ernährungsform zum Menschen passen und sich dieser auch damit wohlfühlen sollte. Die besten Empfehlungen nützen nichts, wenn die Menschen sie langfristig nicht durchhalten oder dadurch an Lebensqualität einbüßen. „Hier muss man sehr individuell schauen“, sagt Astrid Tombek. „Ich empfehle, immer erstmal einen Check bei sich selbst zu machen: Welche Vorlieben habe ich, was esse ich wirklich gerne, worauf möchte ich auf keinen Fall verzichten?“ Tatsächlich, so Dr. Tombek, sei es auch eine Typfrage: „Jeder Körper, jeder Stoffwechsel ist anders.“
Man solle sich daher ruhig Zeit nehmen und schauen: Was bin ich für ein Typ, was brauche ich und was nicht, wie reagiert mein Blutzucker worauf? Eine gute Unterstützung, um dies herauszufinden, ist die kontinuierliche Glukosemessung. Ein CGM-System macht sichtbar, wann und in welcher Kombination Kohlenhydrate eher zu Blutzuckerspitzen führen und wann dies nicht der Fall ist. Gleichzeitig ist es sinnvoll, zu beobachten, ob man durch den Verzehr von pflanzlichem Eiweiß ein längeres Sättigungsgefühl herbeiführen kann. Gute pflanzliche Eiweißlieferanten sind Dr. Tombek zufolge Nüsse und Saaten, Hülsenfrüchte und bestimmte Getreidesorten wie Grünkern, Bulgur und Hirse, aber auch Vollkornprodukte. Geeignet seien auch Milchproteine und Fisch. Von den meisten sogenannten Fleischersatzprodukten hält die Ernährungswissenschaftlerin nicht viel. Sie sind häufig hochverarbeitet und nährstoffarm, bestehen hauptsächlich aus Wasser, Erbsenprotein, viel Salz, mitunter auch Zucker und Geschmacksverstärkern.
Wieviel Protein brauchen wir?
Die empfohlene Proteinmenge liegt zwischen mindestens 0,8 bis zu rund zwei Gramm pro Kilogramm Körpergewicht. Letzteres gilt vor allem für Sportler. In der Regel kann die erforderliche Menge durch den regelmäßigen Verzehr von Käse, Quark, Hülsenfrüchten und Nüssen zwar gedeckt werden, doch Untersuchungen der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen (FAU) zufolge haben Menschen ab 65 Jahren damit so ihre Schwierigkeiten. In einer Studie des Instituts für Biomedizin des Alterns (IBA) aus dem Jahr 2022 zeigte sich, dass die Proteinzufuhr bei rund 40 Prozent der Teilnehmenden unterhalb der aktuellen Referenzwerte lag. Die Folge seien der Verlust von Muskelmasse und -funktion und damit verbunden häufig abnehmende Mobilität – was vor allem für ältere alleinlebende Menschen zum Problem werden kann, heißt es auf der Website der Universität.4
Schadet zu viel Protein den Nieren?
Die Studienlage zu erhöhter Proteinaufnahme und ihrem möglichen Einfluss auf die Nieren ist laut Dr. Tombek unzureichend. Ungünstig, so die Wissenschaftlerin, seien in jedem Fall verzweigte Aminosäuren, die insbesondere in rotem Fleisch und in Wurst vorkommen sowie auch in vielen Fitnesspulvern. Dabei handelt es sich um BCAA („branched chain amino acids“ oder im Deutschen „verzweigtkettige Aminosäuren“), die zwar eine wichtige Rolle für die Muskelqualität darstellen und auch ein schneller Energiespender für das Workout sind. „Aber“, warnt Astrid Tombek, „sie erhöhen die Harnlast und das kann bei Menschen mit Diabetes ein zusätzliches Risiko für die Nieren (die durch erhöhte Zuckerwerte bereits belastet sein könnten) darstellen.“ Auch wenn die zahlreichen Proteinriegel überwiegend pflanzliches Protein enthielten, empfiehlt Dr. Tombek eher eine handvoll Nüsse, wenn man zwischendurch mal hungrig sei.
Welche Rolle spielen digitale Tools?
Zahlreiche Smartphone-Apps unterstützen Menschen mit Diabetes dabei, den Kohlenhydratanteil in einem Gericht genauer zu schätzen. Meist muss man nur ein Foto machen und die App spuckt den geschätzten Wert aus. Auch Ernährungstagebücher lassen sich digital führen. „Die meisten finden es anstrengend, konsequent zu dokumentieren, was sie essen“, sagt Astrid Tombek. „Aber um sich selbst erst einmal einzuschätzen und zu schauen, in welche Kategorie man gehört, ob man sich gesund ernährt und ob die Zusammensetzung der Makronährstoffe (Kohlenhydrate, Eiweiß, Fett) gut ist, kann es durchaus sinnvoll sein, mal eine Woche lang zu erfassen, was man täglich zu sich nimmt.“ Darüber hinaus, so die Ökotrophologin, sei es durchaus ratsam, Ernährungsberatung in Anspruch zu nehmen. Insbesondere Menschen mit Diabetes und/oder Übergewicht erhalten in aller Regel eine Kostenerstattung von der Krankenkasse. Wichtig hierfür sei es, dass die Ökotrophologin oder Diätassistentin entsprechende Zertifikate vorweisen könne. Welche Apps nutzen Sie so? Was schätzen Sie an diesen? Haben Sie Tipps für andere Leserinnen und Leser? Dann teilen Sie uns diese doch mit an feelfree@diaexpert.de oder über Instagram und Facebook.
Protein Screener
Zur frühen Identifizierung einer niedrigen Proteinzufuhr wurde von der Freien Universität Amsterdam in den Niederlanden der Protein Screener 55+ entwickelt, mit dem sich die Proteinzufuhr online über ein einfach zu bedienendes Portal und einen Fragebogen überprüfen lässt. Die deutschsprachige Version des Screeners findet man hier: proteinscreener.nl/#
Quellen:
1 American Journal of Epidemiology: „Effects of Low-Carbohydrate Diets Versus Low-Fat Diets on Metabolic Risk Factors: A Meta-Analysis of Randomized Controlled Clinical Trials“
2 jamanetwork.com/journals/jamanetworkopen/fullarticle/2797714
3 www.pharmazeutische-zeitung.de/wie-sinnvoll-istlow-carb-bei-diabetes
4 Quelle und weitere Informationen: www.fau.de/2022/12/news/wissenschaft/proteinzufuhr-aelterermenschen-online-ueberpruefen