Kaum mehr spürbar?
Eine schwere Unterzuckerung gehört für Menschen mit Diabetes zu den größten Risiken im Alltag. Was steckt dahinter, wie kommt es dazu und was kann man tun?
Balance zu halten ist nicht immer leicht. Zu viel Insulin, zu wenig Kohlenhydrate und schon kann es passieren, dass der Stoffwechsel aus dem Gleichgewicht gerät. Der Blutzuckerwert sinkt, wichtige Organe werden nicht mehr ausreichend mit Glukose versorgt und in der Regel schlägt der Körper Alarm: Er schüttet Stresshormone wie Adrenalin und Cortisol aus, die für die typischen Anzeichen einer Unterzuckerung sorgen. Während bei einer leichten Hypoglykämie Symptome wie Schwitzen, Zittern oder schneller Herzschlag auftreten, können bei einer mittelschweren Form Verwirrtheit und Schwindel, Konzentrations-, Seh- und Sprechstörungen hinzukommen. Das Signal des Körpers ist deutlich: Schnell gegensteuern, es ist ernst! Nach der Definition der amerikanischen Diabetesgesellschaft (ADA) droht eine Unterzuckerung bei Werten unter 70 mg/dL (3,9 mmol/L). Eigentlich sollten Betroffene – durch die eben genannten Anzeichen – rechtzeitig gewarnt sein, aber ungefähr 25 Prozent der Menschen mit Typ-1-Diabetes entwickeln im Laufe der Erkrankung eine beeinträchtigte oder fehlende Hypoglykämie-Wahrnehmung. Auch Typ-2-Diabetiker sind davon betroffen.
Was passiert?
Die ersten körpereigenen Warnsignale sind kaum bis gar nicht spürbar und bis der Blutzuckerabfall bemerkt wird, ist der Glukosespiegel schon so stark gesunken, dass der Betroffene selbst schlimmstenfalls gar nicht mehr in der Lage ist, sich zu helfen. Krampfanfälle, Funktionsausfälle des Gehirns und Bewusstlosigkeit können die Folge sein. Mit hohen Risiken für die eigene Gesundheit, aber auch für das Umfeld – etwa wenn die Unterzuckerung im Straßenverkehr oder bei der Arbeit auftritt. Neuere Studien zeigen zudem, dass häufige Unterzuckerungen eingeschränkte kognitive Leistungen, eine erhöhte Demenzrate und ernsthafte Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit sich bringen können. Bekannt ist, dass die Wahrnehmungsstörungen häufiger auftreten, wenn der Diabetes schon längere Zeit besteht oder Unterzuckerungen generell häufiger vorkommen. Denn werden die „Hypos“ nicht rechtzeitig behandelt, „gewöhnt“ sich der Körper an niedrige Werte, die Wahrnehmungsschwelle sinkt. Unabhängig von der Diabetes-Dauer stellen sich Wahrnehmungsstörungen häufiger auch mit zunehmendem Alter und während der Nacht ein.
Ursachen finden und ausschalten
Zunächst gilt es, zu prüfen, welche Ereignisse den Blutzucker zum Fallen bringen, um Hypoglykämien so gut wie möglich zu verhindern: dazu zählen zum Beispiel ungewohnte körperliche Aktivitäten, verstärkter Alkoholgenuss, Hormonschwankungen und eine Störung der Schilddrüsenfunktion. Auch Lipohypertrophien, also Gewebeverhärtungen an jenen Stellen, in die häufig gespritzt wird, können mitverantwortlich sein. Wer oft in dieselbe Stelle spritzt, an der eine solche Verhärtung bereits zur Verminderung der Insulinresorption geführt hat, ist möglicherweise daran gewöhnt, die Insulindosis etwas zu erhöhen. Wird die gleiche Dosis in gesundes Gewebe gespritzt, kann es zur Unterzuckerung kommen. Auch die Psyche spielt eine Rolle. Manchmal setzen sich Diabetiker selbst unter Druck: Die sehr strenge Verfolgung des Ziels, dauerhaft eine optimale Blutzuckereinstellung und einen niedrigen HbA1c-Wert zu erreichen, kann ebenso das Risiko für eine Hypoglykämie erhöhen wie übersteigerte Angst vor Folgeerkrankungen und dauerhafte Stresssituationen, in denen nicht genügend auf Warnzeichen geachtet wird. Fehlende Krankheitsakzeptanz mit zu seltener Glukosemessung spielt ebenso eine Rolle.
Möglichst gar keine Unterzuckerungen
Als eine der wichtigsten Maßnahmen gegen die Wahrnehmungsstörung gilt: Hypoglykämien möglichst über einen Zeitraum von vier Wochen komplett vermeiden. Nach dieser Zeit, so Experten, erhöhe sich der Schwellenwert für die Wahrnehmung, nach zwölf Wochen hätten viele Betroffene bereits wieder die alte Schwelle erreicht. Aber wie gelingt das? Und was, wenn der Blutzucker vor allem nachts absackt? An erster Stelle steht sicherlich das Gespräch mit dem behandelnden Diabetologen und/oder der Diabetesberaterin. Regelmäßige Mahlzeiten, die richtige Berechnung von Lebensmitteln und kontinuierliche körperliche Aktivität können zur Stabilisierung beitragen. Über ein Diabetes-Tagebuch lassen sich eventuell aus vorangegangenen Unterzuckerungen Schlüsse ziehen, wie man die nächsten Tiefs vermeiden kann. Als besonders hilfreich gilt der Einsatz eines rtCGM-Systems. Mithilfe der kontinuierlichen Glukosemessung werden die Gesetzmäßigkeiten des eigenen Stoffwechsels gut erkannt, zudem warnt die integrierte Alarmfunktion vor unerwarteten Unterzuckerungen; einige Systeme bieten eine Share-Funktion, die es erlaubt, die Werte mit anderen zu teilen. Anhand der ausgewerteten CGM-Daten lässt sich die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen von Hypos relativ gut betimmen. Auch eine Insulinpumpe kann dabei unterstützen, die Basalrate besser anzupassen und ist insbesondere dann sinnvoll, wenn der Alltag nicht nach einem regelmäßigen Rhythmus verläuft.
Gut geschult, gut vorgesorgt
Um mehr über die Symptome einer Unterzuckerung zu erfahren und die individuellen Signale des Körpers zuverlässiger deuten zu können, werden Schulungen und spezielles Training angeboten (www.bgat.de und www.hypos.de). Außerdem ist es sinnvoll, das Umfeld für erste Anzeichen einer Unterzuckerung zu sensibilisieren. Angehörige und Arbeitskollegen sollten darüber aufgeklärt sein, was im Notfall zu tun ist. Entscheidend dabei: Nicht jeder hat die gleichen Symptome. Während der eine unter Kopfschmerzen leidet, klagt ein anderer möglicherweise über Schwindel. Solange eine Wahrnehmungsstörung vorliegt, ist vor allem gute Vorsorge wichtig. Weil die Reaktionszeit deutlich verkürzt sein kann,
sollte ausreichend Traubenzucker deponiert sein: an feststehenden Orten zu Hause und am Arbeitsplatz, in der Jacken und Handtasche, im Auto und neben dem Bett.