Warum sollten Schwangere mit Diabetes vor der Geburt ihres Kindes Kolostrum gewinnen?
Bettina Kraus ist Hebamme mit Fortbildung in Still- und Laktationsberatung im Level-1-Perinatalzentrum des Berliner St. Joseph Krankenhauses, wo Prof. Dr. Schäfer-Graf das Berliner Diabeteszentrum für Schwangere leitet. Im Interview spricht sie über die Bedeutung der Kolostrum-Gewinnung für Schwangere mit Diabetes.
„Frau Kraus, was genau ist Kolostrum?“
Bettina Kraus: „Damit ist die erste Milch gemeint, die von den Milchdrüsen produziert und auch Vormilch genannt wird. Sie hat einen sehr hohen Eiweißgehalt und ist daher etwas dickflüssig, teils gelblich. Kolostrum liefert zahlreiche Nährstoffe und Antikörper und ist daher für Neugeborene besonders nahrhaft und besonders wichtig. Zwei bis fünf Tage nach der Geburt ändert sich die Zusammensetzung und die Brustdrüsen produzieren Übergangs- und später reife Muttermilch.“
„Warum wird Frauen mit Diabetes empfohlen, Kolostrum vor der Geburt zu sammeln?“
Bettina Kraus: „Bei Kindern von Müttern mit Diabetes besteht ein gewisses Risiko, direkt nach der Geburt von einer vorübergehenden Hypoglykämie betroffen zu sein. Dieser Unterzuckerung lässt sich heute wirksam entgegenwirken – laut Leitlinie, wenn ein ausreichendes Stillen direkt nach der Geburt nicht gelingt, mit Ersatzmilch oder zuckerhaltigem Mundgel. Nachweislich bringt es aber viele Vorteile, wenn Babys Kolostrum bekommen. Es reguliert den Blutzuckerspiegel optimal.“
„Wie gelingt die Kolostrum-Gewinnung während der Schwangerschaft?“
Bettina Kraus: „Ab der 37. Schwangerschaftswoche können Frauen über eine Brustmassage Kolostrum gewinnen. Ich empfehle, sich dabei ein bisschen an Musik zu orientieren. Die Brust sollte am besten etwas vorgewärmt sein, ein guter Zeitpunkt wäre daher direkt nach dem Duschen. Dann sollten, über die Länge von ein bis zwei Liedern, beide Brüste mit kreisförmigen Bewegungen massiert werden, dadurch lockert sich das Drüsengewebe. Während Lied drei oder vier kann das Kolostrum erst an der einen, dann an der anderen Seite per Hand herausgedrückt werden. Die ganze Massage dauert etwa 15 bis 20 Minuten.“
„Wie viel Kolostrum wird insgesamt benötigt?“
Bettina Kraus: „Wir geben Frauen einen Kolostrumbecher mit, der relativ groß ist. Da passen 45 Milliliter rein. Ich erkläre immer, dass der Becher überhaupt nicht voll sein muss und anfangs vielleicht nur ein paar Tropfen kommen. Aber nach mehr-maliger Massage sind Einmalportionen von bis zu 30 Millilitern keine Seltenheit. Für das Kind reichen drei bis fünf Milliliter pro Kilogramm Körpergewicht aus. Bei einem Geburtsgewicht von drei Kilogramm genügen also 15 Milliliter für eine prophylaktische Zufütterung.“
„Was passiert mit dem Kolostrum nach der Massage?“
Bettina Kraus: „Das Kolostrum wird von den Frauen tiefgefroren (und ohne Unterbrechung der Kühlkette) in einer Kühltasche mit in die Klinik gebracht. Nach der Geburt wird dann zunächst das Neugeborene an die Brust angelegt. Optimal ist es, wenn das Baby innerhalb der ersten Stunde zu saugen beginnt. Erfahrungsgemäß fällt es dem Baby leichter, Milch aus der Brust zu gewinnen, wenn Frauen ihre Brust zuvor über die Kolostrum-Massage stimuliert haben. Wenn das Baby nach einer Stunde noch nicht getrunken hat, dann versucht die Mutter eine Handentleerung, um das gewonnene Kolostrum alternativ zu füttern. Klappt das nicht, nutzen wir das mitgebrachte Kolostrum.“