Wie viel Technologie für wen?
Jeder Diabetes ist anders. Jeder Mensch ist es auch. Dabei geht es nicht nur um Alter, Körpergröße, Gewicht und Lebensstil. Es geht auch um individuelle Bedürfnisse, Vorlieben, Ansichten. Und natürlich um den Stoffwechsel, der nicht nur von Mensch zu Mensch, sondern auch von Lebensphase zu Lebensphase – ja sogar von Tag zu Tag – variieren kann. Eine Therapie für alle gibt es nicht. Zum Glück – sagen viele – gibt es immer mehr Therapiemöglichkeiten, Systeme, die aus Modulen bestehen, und die Freiheit, wählen zu können. Genau das ist aber auch ein Problem, denn je mehr Optionen verfügbar sind, desto unübersichtlicher wird es, desto schwerer fällt die Entscheidung.
Welche Therapie, welches System am Ende sinnvoll ist, entscheiden die meisten gemeinsam mit dem Diabetesteam einer Schwerpunktpraxis. Ob das gewählte System dann langfristig die beste Lösung ist, zeigt sich im Laufe der Zeit. Manchmal muss man sich mit einem neuen System erst anfreunden, häufig sind schon bald wieder neue Lösungen mit zusätzlichen Funktionen auf dem Markt verfügbar. Seit Kurzem etwa die ersten AID-Systeme, also solche, die auf der Basis von Gewebeglukosedaten automatisiert Insulin dosieren beziehungsweise die Abgabe unterbrechen. Lange bevor das erste Hybrid-Closed-Loop-System seine Zulassung erhielt, hatte eine wachsende Gruppe von Menschen mit Typ-1-Diabetes damit begonnen, mithilfe sogenannter DIY-(Do-It-Yourself)-Closed-Loop-Systeme eine individuell optimale Stoffwechseleinstellung zu erreichen, und dadurch die Entwicklungen in der gesamten Diabetestechnologie enorm beschleunigt.
Corona als weiterer Beschleuniger
Auch wenn die Digitalisierung in Deutschland insgesamt zu wünschen übrig lässt – infolge der Corona-Pandemie hat sie einen enormen Schub erhalten. Dies zeigte sich in den vielen telemedizinischen Sprechstunden ebenso wie in Online-Schulungen. Es ist ein Wandel auf vielen Ebenen: Neue, moderne AID-Systeme, Algorithmen, die Therapieentscheidungen treffen, und virtuelle Begegnungen.
Katja Römhild ist seit 17 Jahren als Diabetesberaterin tätig und findet den derzeitigen
Wandel durchaus begrüßenswert. „Ich habe nicht den Eindruck, dass das für die Patient*innen ein großes Problem ist. Gerade in Corona-Zeiten hatte ich sogar eher den Eindruck, dass die Leute ganz selbstverständlich ihre Werte digital gesendet haben. Selbst unsere älteren Patient*innen haben das gut hinbekommen.“ Allerdings gibt sie zu bedenken: „Digital geht es dann eben oft nur um die Werte und nicht um den Menschen, der dahinter steht. Es besteht die Gefahr, dass das Zwischenmenschliche zu kurz kommt.“
Dasselbe gelte auch für Online-Schulungen und den Austausch der Teilnehmenden untereinander. Kontakte zu knüpfen, fällt am Bildschirm schwer, und für vertrauensvolle Gespräche unter vier Augen ist in einem digitalen Meeting kein Raum.“ Sie sei kein Fan von Online-Schulungen, gibt Katja Römhild zu. Wenn es um technische Einweisungen gehe – das laufe auch online prima. Aber für eine richtige Schulung sei es besser, wenn man die Pumpe in die Hand nehmen könne.
Apropos neue Systeme: Bei den modernen Insulinpumpen und Closed-Loop-Systemen müssen Patient*innen lernen, Vertrauen und Kontrolle abzugeben. Katja Römhilds Erfahrungen sind gut: Zwar seien viele zunächst sehr vorsichtig, aber sie sage dann immer: „Machen Sie doch die ersten vier Wochen einfach nur das, was das Gerät vorgibt.“ Das fällt schwer, denn viele möchten wie gewohnt selbst korrigieren. „Auch für uns als Diabetesberater*innen ist das eine Umstellung. Nehmen wir zum Beispiel den Algorithmus DBLG1 von Diabeloop: Vereinfacht gesagt kommt da jetzt so ein ,Ding‘, das quasi alles über den Haufen wirft, was wir jahrelang gemacht haben. Basalraten einstellen etwa – das erledigt jetzt eine Software und es läuft.“
Nicht so viele Gedanken machen
„Ich habe manchmal den Eindruck, dass die Menschen, die sich am meisten Gedanken machen und alles intellektuell erfassen möchten, mehr Schwierigkeiten haben als jene, die es einfach laufen lassen“, so Katja Römhild. Anders sei es bei den DIY-Loopern. Hier müsse man sich ja intensiv mit seinem Diabetes auseinandersetzen. Die Looperszene habe die ganze Diabetologie umgekrempelt, sagt Katja Römhild. „Ich finde es gut, wenn hier Verantwortung übernommen wird, und es vielen dadurch ja am Ende besser geht.“ Aber nicht jede und jeder kann, möchte oder sollte diesen Weg gehen. In Online-Treffen ist meist kein Raum für das vertrauensvolle Zwiegespräch am Rande.
Perspektivwechsel: Diabetes-Blogger*innen im Austausch
Unterschiedliche Menschen, unterschiedliche Wege. Ganz gleich wie verschieden Menschen mit Diabetes sind – die meisten tauschen sich gerne untereinander aus, sind dankbar für Anregungen und möchten wissen, wie andere es machen. Und weil wir in digitalen Zeiten leben, tun sie das im Internet. In sozialen Netzwerken und auf Blogs. Dort besuchen sie die, die offen mit ihrem Diabetes umgehen und ihre Erfahrungen gerne mit anderen teilen: Blogger*innen!
Anfang September hatte DiaExpert zum virtuellen Blogger*innenaustausch geladen und mit insgesamt sieben Blogger*innen über verschiedene Themen diskutiert. Auch über moderne Diabetes-Managementsysteme. Es sind Menschen zwischen Anfang 20 und Ende 50, solche, die erst vor wenigen Jahren ihre Diagnose erhielten, und solche, die seit über 20 Jahren damit leben. Drei von ihnen managen ihren Diabetes mit einem DIY-Closed-Loop, die anderen vier nutzen eine Insulinpumpe und ein System zur kontinuierlichen Gewebezuckermessung. Die jüngste unter ihnen verwendet außerdem etwa vier bis acht Wochen jährlich einen Pen. So verschieden sie sind, eines eint sie alle: Sie möchten anderen Menschen mit Diabetes Mut machen, zeigen, dass auch mit Diabetes so gut wie alles möglich ist, und hierzu ihre eigenen Erfahrungen teilen.
Alles ist möglich
Den Kopf in den Sand zu stecken, war für Sascha („Zuckerjunkies“) noch nie eine Option. Mehr noch: Sascha kann seinem Diabetes immer wieder etwas Positives abgewinnen: „Das Tolle ist: Wir lernen, was in unserem Essen so alles drinsteckt und was das mit uns macht!“ Sich mit dem Diabetes auseinanderzusetzen, war für den Podcaster aus Baden-Württemberg also weniger Problem als vielmehr echtes Interesse, weshalb er auch Lust dazu hatte, sich einen DIY-Loop zu bauen. Seine persönliche Lebenseinstellung „Geht nicht gibt’s nicht“ teilt er mit Michi („Type1Backpacker“), der in seinem Blog das Reisen mit Diabetes zum Thema gemacht hat – vornehmlich mit Rucksack und seit kurzem mit schlauchloser Pumpe.
Offen für Neues – aber nicht um jeden Preis
Beate („Beate putzt – Diabetesblog“) kann auf die längste Erfahrung mit Diabetes zurückblicken: 27 Jahre Diabetes, 16 Jahre Insulinpumpe und seit über drei Jahren mit einem DIY-Closed-Loop unterwegs. Es sei nicht immer einfach, man müsse sich wirklich damit beschäftigen, sagt sie und räumt ein, dass sie es insbesondere schwierig fände, immer ehrlich zu sich selbst zu sein. Vor allem, wenn etwas mal nicht so rund läuft. „Aber“, so ihr Fazit: „ich habe durch die Beschäftigung mit AndroidAPS meinen Diabetes nochmal neu kennenlernen können und kann für mich sagen, dass es wirklich gut läuft.“
Auch Susanne („Diagranny“) hat – nachdem es mit der konventionellen Pumpeneinstellung einfach nicht funktionieren wollte – die intensive Auseinandersetzung mit dem Diabetes und der AndroidAPS Dokumentation auf sich genommen. „Dabei habe ich sehr viel über meine Blutzuckerverläufe gelernt.“ Wichtig ist es ihr, zu betonen: „Das ist keine Lösung für jeden!“ Wer diese Option nutze, müsse, Susanne zufolge, wirklich in der Lage sein, sein System selbst zu füttern und anzupassen. „Davon, dass andere für mich ein Closed-Loop-System bauen, weil meinerseits Zeit, Interesse oder Verständnis fehlen, halte ich gar nichts.“ Katharina („Diapolitan“) beobachtet es mit Sorge, dass mancherorts Closed-Loop-Systeme als Allheilmittel dargestellt werden. Insbesondere die Begründung „Dann muss ich mich nicht mehr um den Diabetes kümmern“ sieht die Bloggerin kritisch. Es sei richtig und wichtig, dass alle Systeme nebeneinander ihre Berechtigung hätten. Aber man könne eben nicht jedes Problem mit einem Algorithmus lösen. „Menschen verändern sich“, gibt Katharina zu bedenken und meint damit nicht nur Hormonschwankungen, denen wir im Laufe eines Lebens ausgesetzt sind. Mit den unterschiedlichen Lebensphasen verändere sich eben auch die Diabetestherapie. Das sind oft schleichende Prozesse und die berechtigte Frage lautet: Kann ein System sich darauf einstellen, wenn sich Anwender*innen gerade zwischen zwei Lebensphasen befinden – etwa zu Beginn einer Schwangerschaft oder auch während der Zeit der Menopause (die sich oftmals über viele Jahre erstreckt)?
Alle Blogger*innen an diesem Abend teilen die Sorge, dass die Sensibilität verlorengehen könnte, wenn man sich zu sehr auf eine Technologie, eine App, ein System verlasse. Dass Menschen mit Diabetes es verlernen, die Signale des eigenen Körpers wahrzunehmen und darauf zu hören. Für die beiden Jüngsten in der Runde, Charli („diabetosaurusnamedholly“) und Nina („diabadass_nina“), trifft dies sicher nicht zu. Keine der beiden nutzt ein AID-System, sie scannen ihre Werte, verwenden eine klassische Insulinpumpe und sind mit ihrem jeweiligen Therapiemanagement zufrieden.
Die 23-jährige Charli, die vor drei Jahren ihre Diagnose erhielt, ist gut eingestellt und hat sich daher noch nicht intensiver mit weiteren Möglichkeiten auseinandergesetzt. Momentan läuft alles gut. Nina, die seit 13 Jahren mit dem Diabetes lebt, kann sich noch nicht einmal vorstellen, durchgehend eine Pumpe am Körper zu tragen. Aus diesem Grund macht die 21-Jährige jeden Sommer eine Pumpenpause. „Ich finde es angenehm, eine Weile ohne Insulinpumpe zu sein. Meine Haut kann sich erholen und ich spritze für vier bis acht Wochen Insulin mit dem Pen.“ Selbstverständlich haben die Blogger*innen noch jede Menge weiterer spannender Themen parat und es kommen täglich neue hinzu. Daher wird DiaExpert sich weiter regelmäßig mit ihnen austauschen und in der feelfree für Sie darüber berichten.